Jugend (1879 - 1900)
Hedy Brügelmann wird am 16. August 1879 als Hedy Hänsel in Porto Alegre, Brasilien, geboren. Als Geburtsdatum zirkuliert auch ein späteres Datum: 16. August 1881, das sich auch in ihrer Handschrift z. B. unter Arbeitsverträgen findet. Vermutlich hat sie sich damit jünger vorgeben wollen, als sie eigentlich war.
Elternhaus
Sie ist das fünfte und jüngste Kind deutscher Einwanderer. Ihr Vater ist der 1836 in Frankfurt geborene Friedrich Ludwig Heinrich Hänsel, genannt Frederico, ein Kaufmann und zum Schluss Direktor der Flussdampfergesellschaft in Porto Alegre. Der Tod seiner Schwester in Brasilien war Veranlassung, um nach Brasilien zu gehen, wo er sich schließlich in Porto Alegre ansässig macht. Er ist politisch aktiv und gelangt zu Ansehen. Die Frankfurter Zeitung schreibt 1892 über ihn: „In seinem Adoptiv-Vaterlande, insbesondere in der Provinz Rio Grande do Sul, hat er eine hervorragende Rolle gespielt und er war zur Zeit des Kaiserreiches der einzige Deutsche, welcher außer Herrn von Koseritz als Abgeordneter in die Provinzial Assemblea gewählt worden ist." Seine monarchistische Einstellung wird ihm in der entstehenden Republik zum Verhängnis: er fällt 1892 einem politischen Mord zum Opfer. Seine jüngste Tochter Hedy ist dann erst 13 Jahre alt.
Ihre Mutter ist die 1844 in Brasilien geborene Ernesta Hänsel, geborene Hasslocher, Enkelin des Frankfurter Pfarrers Klingelhöffer, der in den zwanziger Jaren des
19. Jahrhunderts nach Brasilien ausgewandert und auch Opfer einer Revolution geworden war (1840). Da Hedys Mutter ihr gesamtes Leben – abgesehen von verschiedenen Besuchen in Deutschland - in
Brasilien zubringt, spricht sie besser portugiesisch als deutsch. Hedy selbst wächst zweisprachig auf, aber doch vorwiegend portugiesisch. Ernesta gilt als sehr tüchtig und streng und sorgt
als Witwe von 1892 an für den Lebensunterhalt der Familie, indem sie Pensionsgäste aufnimmt. Ihre dann z.T. schon erwachsenen Kinder sind inzwischen verheiratet und ausser
Haus.
Geschwister
Hedy hat zwei Brüder und zwei ältere Schwestern: Waldemar, Oscar, Ottilia und Amalia Hasslocher Hänsel. Dem Vater Frederico Hänsel ist eine gute Ausbildung seiner Kinder wichtig, wofür er weder Kosten noch Mühe spart. Über ihre Brüder ist wenig bekannt. Die älteste Schwester Ottilia ist verheiratet mit Frederico Bahlke. Amalia wird am Konservatorium in Frankfurt als Sängerin ausgebildet (1886 bis 1891). Die Frankfurter Zeitung schreibt 1892: „Die zweite Tochter, die am Hoch’schen Konservatorium (Frankfurt) als Sängerin ausgebildet wurde, debütierte vor kurzem in (?) als “Selica” in der Afrikanerin mit großem Erfolg." Ab 1893 bis 1899 singt sie an der Oper in Mannheim. Sie kehrt zurück nach Brasilien und setzt dort als Sängerin ihre Karriere fort. Ihr Künstlername ist, nach der Heirat (1910) mit dem Fotografen Jacintho Ferrari in Porte Alegre: Amalia Iracema Ferrari. Auch sie wird in Brasilien schon als Primadonna gefeiert und beendet ihre Karriere als Gesangslehrerin. In einem Brief an Helene Vischer (1856-1928) in Wien schreibt Hedy im Juli 1916 jedoch: „Von Brasilien höre ich leider gar nichts seit Dezember, kann Ihnen keine frischen Nachrichten von unserer lieben Mali (= Amalia, RB) geben. Da war ich vor 2 Jahren drüben, kam im Oktober 14 - während des Krieges heim - und kann Ihnen bald in Wien ausführlich berichten. Nur das Eine: ich kann es kaum begreifen, daß die schönste Stimme sich nicht durchzusetzen vermochte!" Amalia stirbt 1936 in Porto Alegre, wo heute eine Straße nach ihr benannt ist. Möglicherweise ist Amalia, mit der Hedy ein inniges Verhältnis hat, ein Vorbild für ihren eigenen Lebensentwurf.
Schulzeit
Über ihre Kindheit und Schulzeit erzählt Hedy Brügelmann in einem Interview mit Paul Wilhem (Neues Wiener Journal, no. 8255, Sonntag, 22. Oktober 1916):
"Ich bin", erzählt die Künstlerin, da ich mit ihr über ihre Jugend und ihre ersten künstlerischen Anfänge plaudere, "in Porto Alegre in Brasilien geboren und dort erzogen worden. Ich bin noch
inmitten all des schwarzen Aberglaubens aufgewachsen, der dort herrscht und den die geistige Aufklärung noch immer nicht ganz zu durchdringen vermochte. Ich habe meine Mädchenjahre in einem
deutschen Kloster zugebracht. Das ist in Brasilien allgemein Sitte; die Töchter aus den ersten Kreisen der Provinz wachsen im Kloster heran, wo sie intern mit den Nonnen leben und eine sehr
sorgfältige, sehr aufs Äußerliche gerichtete und auf die Pflege guter Formen bedachte Erziehung genießen. Das haben wir Südländer auch mit den Süddeutschen gemein, daß eine gewisse Kultiviertheit
in der Form gepflegt wird (…). Als ich noch im Kloster war, hat man schon immer geahnt, daß ich zur Bühne wolle; ich galt schon damals als kleines Mädchen, immer als die 'Sängerin'. Freilich
wollte man im Kloster durchaus nichts davon wissen, denn schon der bloße Gedanke an das Theater erschien dort viel zu 'weltlich'."
Musik
Wegen ihrer schönen Stimme darf Hedy Hänsel schon in der Klosterschule die Kirchensoli singen. Mit 15 Jahren hört sie zum ersten Male im deutschen Club Schubert, Brahms und Schumann. Da entsteht ihr Wunsch, sich in Deutschland zur Sängerin ausbilden zu lassen. Im Jahr 1896 weilt sie bereits zu einem etwa ein Jahr lang dauerndem Musikstudium am Frankfurter Konservatorium. Warum sie dort nicht – wie ihre Schwester Amalia - länger bleibt, ist undeutlich. Vielleicht ist da schon die Liebe zu Theodor Brügelmann im Spiel. Er kennt sie vom Musikleben der deutschen Kolonie in Porto Alegre. Sie singt sehr schön, er spielt gut Klavier - musizierend verlieben sie sich. Zwei Jahre müssen sie noch bis zur Heirat warten, da die Mutter Ernesta Theos Bewerbung um ihre jüngste Tochter zunächst ablehnt wegen deren großen Jugend. Erst 1899 läßt sie die Heirat zu, da ist er 33 und sie 18 Jahre alt.
Theodor Brügelmann
Theodor Brügelmann, genannt Theo, wird 1864 in Düsseldorf als zweiter von vier Söhnen und zwei Töchtern des Cromforder Fabrikanten Julius Brügelmann (Baumwollspinnerei und –weberei) geboren. Cromford heißt die Fabrik nach dem Ort in England, von dem sein Vorfahr Johann Gottfried Brügelmann die Spinnmaschinen heimlich importiert hatte, eine frühe Industriespionage. Nachdem er nach dem Realgymnasium fünf Jahre Studium und Praktika der Landwirtschaft absolviert hat, läßt er sich sein Erbteil auszahlen und reist nach Brasilien, um dort eine Farm zu erwerben. Nachdem er das Land genauer kennen gelernt hat, gibt er diesen Plan auf, weil die Aufstände gegen die portugiesischen Kolonialherren und europäischen Großgrundbesitzer keinen ruhigen Aufbau erwarten lassen. In Porto Alegre befreundet er sich mit der Familie des Bankiers und (nebenberuflich) deutschen Konsuls Frederico Hänsel, dessen jüngste Tochter Hedy er am Klavier begleitet und sehr bewundert. Sie verlieben sich ineinander.
Sohn Hermann
Nach der Heirat wird am 5. November 1899 in Porto Alegre der einzige Sohn, Hermann Brügelmann, geboren. Mit acht Wochen erlebt er den Beginn des neuen Jahrhunderts. Als er ein halbes Jahr alt ist, übersiedelt die junge Familie nach Deutschland, da Theo sich infolge der trüben wirtschaftlichen Lage und schlechten Geschäftsaussichten in Brasilien dort keine finanziell gesicherte Zukunft verspricht. Von der wochenlangen Dampferfahrt und der Äquatortaufe wird der Sohn wenig gemerkt haben, denn er bleibt im Schutz seiner schwarzen Amme Vovo. Während der ersten vier Lebensjahre ist sie der wichtigste Mensch für ihn. Das erscheint dann den Eltern bedenklich: sie muss verschwinden — ein großer Verlust für ihn. Über Hermanns Kindheit ist nicht viel bekannt. Er muss noch mit 12 Jahren kurze Kinderhosen tragen, weil es seiner Mutter nicht angenehm ist, dass man sich beim Anblick ihres Sohnes ihr Alter ausrechnen kann – sie sieht viel jünger aus.
Nach dem Gymnasium mit verfrühtem Abschluss wegen des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges wird er bei der Artillerie als Sanitäter eingesetzt. In Stuttgart und später in München beginnt er ein Musikstudium (Dirigentenfach), das er jedoch abbricht. Danach absolviert er ein Studium der Ökonomie, Finanzwissenschaft, Jurisprudenz und Psychologie und promoviert 1928 in Basel. Im Zweiten Weltkrieg wird er als psychologischer Eignungsprüfer und Statistiker eingesetzt. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzt er sich in verschiedenen Funktionen (u.a. als Beigeordneter des Deutschen Städtetages) für eine langfristig angelegte Stadt- und Regionalplanung ein. In zwei Ehen werden sechs Kinder geboren, wovon das dritte Kind sehr jung stirbt - ein schwerer Schlag für die Familie. Hermann Brügelmann stirbt 1972 in Köln.