Stuttgart (1909-1917)
Wechsel zur Stuttgarter Oper
Der aus dem Rheinland stammende Komponist, Dirigent, Pianist und Theaterintendant Max von
Schillings (1868-1933) bekleidet in den Jahren 1908 bis 1918 das Amt des Generalmusikdirektors am Königlichen Hoftheater Stuttgart. Er begleitet Hedy bei einem Konzert am Klavier und entdeckt
ihr Talent für die Oper. Im Januar 1909 fragt der Stuttgarter Oberregisseur Gerhäuser sie, ob sie die Rolle der ‚Elisabeth' in Wagners ‚Tannhäuser' singen könne, da die entsprechende Sängerin
wegen Krankheit ausgefallen sei. Sie willigt ein und freut sich auf ihren Auftritt am Stuttgarter Hoftheater: „Daß ich in der Partie der Elisabeth bereits lebe und webe, brauche ich Ihnen wohl
nicht zu versichern, ich freue mich sehr auf den 14.!" (Brief an Schillings vom 1. Februar 1909). Am 14. Februar 1909 gibt sie ihr erstes Gastspiel in Stuttgart, wofür sie vier Konzerte in
Bromberg, Hamburg, Düsseldorf und Lübeck absagen und ein weiteres Engagement für Frankfurt am Main ausschlagen muss. Die Rheinische Musik- und Theaterzeitung (X. Jahrgang, Nr.8, 20. Februar 1909)
schreibt darüber: „Sie hat übrigens am 14. Februar als Elisabeth am Stuttgarter Hoftheater einen ganz außergewöhnlichen Erfolg gehabt, der um so höher zu bewerten ist, als es sich um ihr erstes
Auftreten auf der Bühne handelte."
Es folgen weitere Rollen ab Mitte April und eine vertragliche Verpflichtung als Sängerin am königlichen Hoftheater Stuttgart ab September 1909 für den Zeitraum von fünf Jahren. Der Vertrag wird
schon vor ihrem ersten Gastspiel in Stuttgart aufgesetzt, nämlich am 10. Februar 1909, und unterschrieben am 23. Februar. Neben ihrer Unterschrift findet sich auch die Unterschrift ihres
„Vormundes", sprich ihres Mannes Theo. Im Vertrag ist Raum gelassen für eine Weiterführung ihrer Konzerttätigkeit - organisiert von ihrem Musik-Agenten Salter in Berlin - sei es in viel
geringerem Masse als bisher.
Die Rheinische Musik- und Theaterzeitung (X. Jahrgang, Nr.42, 16. Oktober 1909) schreibt über die Beginnphase in Stuttgart:
„Die Stuttgarter Hofopernsängerin Hedy Iracema-Brügelmann geht ihren Weg, wie wir es prophezeiten. Seit kaum einem Vierteljahr offiziell an der Bühne, hat sie
bereits die Partien der Elisabeth, Elsa, Sieglinde, Senta, Santuzza und Gräfin im Figaro gesungen und wird in allernächster Zeit als Donna Anna und Evchen debütieren. Telegraphisch nach Karlsruhe
berufen, gastierte sie dort jüngst als Santuzza in einer Weise, daß die Badische Presse schrieb, solch eine allseitig vollendete Leistung sei überhaupt seit Jahr und Tag in der badischen Residenz
nicht mehr gehört und gesehen worden."
Hedy wohnt zunächst monatelang im Stuttgarter Zentrum im Hotel Marquardt, erst in den Weihnachstferien 1909 zieht sie in eine Wohnung in der Kernerstrasse 59. Ihr Mann und Sohn bleiben zunächst in Köln. Sie folgen erst im Sommer 1912 nach Stuttgart, als Theo eine Stelle bei der Württembergischen Vereinsbank antritt.
Arbeitsbelastung
Hedys Arbeitsbelastung ist enorm, da sie zahlreiche neue Rollen einstudieren muß, die Frequenz der Opernaufführungen hoch ist und entsprechendes für die damit verbundenen Proben gilt. Daneben übt sie eine zwar reduzierte aber doch anhaltende Konzerttätigkeit aus, die oft mit größeren Reisen verbunden ist (Konzerte u.a. in Hannover, Düsseldorf, Elberfeld, München, St. Gallen und Berlin). Zusätzlich bekommt sie jeden Donnerstag ab September 1909 jeweils eine Stunde dramatischen Unterricht von Oberregisseur Gerhäuser persönlich, da sie nicht für die Bühne sondern als Konzertsängerin ausgebildet ist.
Die hohe Arbeitsbelastung wird z.B. aus folgendem Brief Hedys an die Operdirektion deutlich: „Zu meinem großen Erstaunen lese ich auf dem heutigen Theaterzettel, daß ich krank gemeldet bin. Ich sagte nur ab, weil ich vom 4. bis 8. November dreimal die Euryanthe gesungen hatte und mich nach der letzten Aufführung nicht frisch genug fühlte, eine Partie wie die Senta zu singen. In knapp einer Woche 4 große Rollen mit den anstrengenden Proben kann ich unmöglich bewältigen, 2 bis 3 Rollen übernehme ich immer. Im übrigen hatte ich heute dreieinhalb Stunden Rosenkavalier-Proben." (10.11.1911).
Stimmtechnische Studien bei Felix von Kraus
Anstatt sich nach den Strapazen des ersten Jahres an der Bühne in Stuttgart in den Sommerferien im Jahr 1910 auszuruhen und Zeit mit ihrer Familie zu verbringen, nimmt Hedy sechs Wochen lang
Unterricht bei Dr. Felix
von Kraus (1870–1937) zwecks stimmtechnischer Studien. Der österreichische Bass und Musikwissenschaftler ist seit 1908 künstlerischer Leiter der Münchner Oper und Professor an der Akademie
der Tonkunst in München. Hedy ist ihm dafür sehr erkenntlich. In einem Brief an die Operndirektion schreibt sie im September 1910: „Ihm bin ich zu sehr großem Dank verpflichtet, da er sich
meiner Stimme in selbstlosester Weise angenommen hat während dieser Ferien; ich darf Dr. von Kraus nicht im Stich lassen." Es geht um ein Konzert in Augsburg am 10. Oktober 1910 mit dem
Kraus-Vokalquartett, in dem neben Felix von Kraus auch seine amerikanische Frau Adrienne Osborne singt. Hedy will dieses Konzert nicht absagen für ein Konzert in Friedrichshafen zu Ehren des Geburtstages der Königin. Im Februar 1911 tritt Hedy
erneut mit dem Kraus-Quartett in Prag auf.
Selbstzweifel
Zu den schweren Arbeitsumständen und der langen Trennung von ihrem Mann und Kind kommt auch noch der Selbstzweifel, was zu einer persönlichen Krise führt. Am 4.3.1911 schreibt Hedy an den
Generalintendanten Baron von Puttlitz:
"Euer Excellenz, Mit einer Bitte komme ich heute zu Ihnen. In dieser Saison fühle ich mich so recht unbefriedigt in meiner Stellung; ich versuchte immer, mich darüber hinwegzusetzen, und vermag
es nicht. Meine Stellung hier ist eine besonders schwere neben Frau Cordes und Frl. Burckardt, die beide routinierte Sängerinnen sind mit großem Repertoire. Ich habe mich redlich bemüht, neben
den beiden Damen zu bestehen und empfinde es, daß es mir nicht gelingt so dazustehen, wie ich es möchte und vielleicht auch könnte. Ich bitte Sie deshalb um meine Entlassung für die Saison 1912.
So lange mein Mann selbst nicht hier gebunden ist, kann ich leichter einen Entschluß fassen. Ich hätte gerne mit Euer Excellenz selbst gesprochen, ich bin aber zu erregt, auf dem Papier geht
alles glatter. Ich bitte noch Euer Excellenz mich morgen von der Gutrune zu dispensieren, ich kann mit dem besten Willen morgen nicht singen und bedauere es lebhaft, nun doch einmal absagen zu
müssen."
Aus der Personalakte wird jedoch nicht deutlich, wie diese Krise gelöst wird. Hedy bleibt jedoch in Stuttgart, und 1912 kommen auch ihr Mann und Sohn aus Köln nach.
Repertoire
Neben den schon genannten Rollen singt Hedy in Stuttgart u.a. auch die Feldmarschallin, Ariadne, Chrysothemis, Donna Anna, Tosca, Martha, Valentine, Lady Milford, Recha, Agathe, Euryanthe, Blanchefleure, Kundry, Gutrune sowie in Opern von Schillings: Herzland, Diemut und Mona Lisa. Etwas exotischer sind Sulamith (gleichnamige Oper von Paul van Klenau), Rosine („Oberst Chabert" von Hermann von Waltershausen) sowie auch die Hauptrolle in „Die Dame in Rot", einer Operette von Robert Winterberg. Eine ausführliche Liste von Hedys vielfältigem gesamten Opernrepertoire findet sich auf der Seite 'Musik'.
Kollegen
In Stuttgart singt Hedy unter den Dirigenten Max von Schillings, Erich Band und Paul Drach. Ihre Sängerkolleginnen sind u.a. Sofie Cordes, Sigrid
Hoffmann-Onegin und die 1910 in einem Eifersuchtsdrama erschossene Anna Sutter. Zu den männlichen Kollegen zählen Karl Erb, Albin Swoboda, Hermann Weil, Reinhold Fritz und George Meader. Auch mit der berühmten österreichischen Wagner-Interpretin Anna von Mildenburg steht Hedy in Stuttgart dreimal bei Gastspielen zusammen auf der Bühne, ebenso mit dem weltberühmten italienischen Tenor Enrico Caruso, der ihr bei dieser Gelegenheit eine Autogrammkarte widmet.
Konzerttätigkeit
Neben ihrer Bühnentätigkeit an der Stuttgarter Oper tritt Hedy auch als Solistin bei Konzerten des Stuttgarter Orchesters unter Schillings, den sogenannten Abonnementskonzerten, und bei
verschiedenen Wohltätigkeitskonzerten auf. Regelmäßig läßt sie sich auch beurlauben für ihre Konzerttätigkeit in anderen Städten, z.B. Augsburg, München, Heidelberg, Düsseldorf, Hamburg,
Wiesbaden, Koblenz, Coburg, Speyer, Esslingen, Barmen, Tübingen, Siegen und Münster.
Ein steter Gast ist Hedy auch in Berlin bei Konzerten der Singakademie - unter Leitung von Georg Schumann - und den dortigen Berliner Philharmonikern (siehe auch die Übersicht der Konzerte mit
der Singakademie bei 'Konzerte'). Nennenswert ist auch ihre Teilnahme an einem der berühmten Niederrheinischen Musikfeste im Juni 1911 in
Düsseldorf und dem Oberbadischen Musikfest in Freiburg im Mai 1910, bei dem Albert Schweitzer, der zu dieser Zeit in Strassburg wohnt, an der Orgel spielt.
Konzerte in St. Gallen
Zwei Auftritte in St. Gallen (im Januar 1911 und November 1913) zählen zu den selteneren Konzerten im Ausland. Im St. Galler Tagblatt vom 5.11.1913 findet sich dazu das Folgende:
"Zweites Abonnementskonzert.
Das zweite Konzert ist in der Hauptsache moderner Musik gewidmet. Mahler, Schillings, Wolff sind moderne Namen und zwar solche von bestem Klang, vor denen sich niemand zu bekreuzen braucht. Das Hauptgewicht des Abends soll auf der Erstaufführung der IV. Symphonie Mahlers ruhen. Es ist nicht leicht, Mahlers Symphonien unserm Publikum zugänglich zu machen; die meisten gehen in den Anforderungen an Orchesterzusammensetzung und Chor- und Solistenmitwirkung über das hinaus, was mit unsern Mitteln möglich ist. Zum Erreichbaren gehört diese IV. Symphonie, die in mancher Beziehung der ersten, 1912 und 1913 aufgeführten, nicht unähnlich ist. Doch weicht Mahler auch hier von der Regel ab, indem er im ganzen letzten Satz eine Sopranstimme mitwirken läßt. (...)
Frau Iracema Brügelmann aus Stuttgart wurde speziell im Hinblick auf das Sopransolo der Symphonie für dieses Konzert wieder gewonnen. Sie hat im Januar 1911 namentlich durch ihre verständnis- und temperamentvolle Auffassung moderner Lieder die Gunst unseres Publikums in reichem Maße gewonnen. Wir werden sie auch diesmal wieder in diesem Fache schätzen dürfen; daneben interessieren uns die Berliozschen Gesänge mit Orchesterbegleitung; unseres Wissens kennt man hier Berlioz nur aus seinen großen Orchester- und Chorwerken. (...)"
Gastspiele
Von Stuttgart aus ist Hedy Brügelmann wiederholt zu Gast an der Karlsruher Bühne, springt dort auch kurzfristig ein für erkrankte Solisten. Aber sie gastiert auch in anderen deutschen Städten, wie z.B. 1910 in Düsseldorf in der Oper „Mahadeva“ von Felix Gotthelf in der Rolle der Maya, in der sie auch einen Tanz aufführen muss. Gotthelf (1857 geb. in Mönchengladbach, 1930 gestorben in Dresden) ist Arzt und Komponist. Es gibt eine Reihe von Briefen von ihm an Hedy mit Instruktionen zur Rolle der Maya in dieser kurz zuvor uraufgeführten Oper (Uraufführung 1910 in Düsseldorf). 1912 ist Hedy wiederum in Düsseldorf zu Gast in den Titelrollen der Tosca und von Figaros Hochzeit. Auch gastiert sie u.a. in Mannheim (Ariadne auf Naxos), Hannover (Don Juan), München (Ariadne auf Naxos), Nürnberg (Meistersinger) und Berlin (Elektra, 1916, unter Richard Strauss).
Ausländische Gastspiele bringen sie nach London ins Royal Opera House in Covent Garden (1913 als Marschallin im Rosenkavalier), nach Wien (mehrere Auftritte als Vorbereitung ihres Wechsels dorthin) und Anfang 1918 in die Niederlande (Amsterdam und Den Haag) mit der Mona Lisa. Diese letzten Gastspiele in die Niederlanden sind Gesamtgastspiele des Stuttgarter Ensembles unter Leitung von Max von Schillings. Hedy, die dann schon in Wien arbeitet, lässt sich dazu beurlauben. Über ihre zweite Tournee durch Brasilien im Jahr 1914 sowie ihre Gastspiele in Frankreich vor Soldaten im ersten Weltkrieg wird noch an anderer Stelle berichtet.
Odeon-Schallplattenaufnahmen in Berlin
Zwischen 1911 und 1914 reist Hedy mehrfach nach Berlin, um beim Plattenlabel Odeon Schallplattenaufnahmen machen zu lassen. Odeon, die "International Talking Machine Company", wurde 1903 vom
Amerikaner Frederick M. Prescott in Berlin-Weissensee gegründet. Charakteristisches Merkmal des je nach Preisklasse andersfarbigen Etiketts war der „Odeon-Tempel". Es geht um die ersten
Schellackplatten, die per Seite nur wenige Minuten Spieldauer hatten - gerade genug für eine Arie. Etwa 20 Arien/Lieder mit Orchesterbegleitung sind von Hedy aufgenommen und zum Teil überliefert.
Dank dieser Aufnahmen können wir ihre Stimme bis heute hören (siehe Tonaufnahmen). Weitere Informationen über Hedys Aufnahmen sind bei
der Diskografie zu finden.
Zweite Konzertreise Brasilien (1914)
Erst sieben Jahre nach ihrer ersten (Konzert-)Reise 1907 in ihre Heimat Brasilien macht sich Hedy zu einer erneuten Reise dorthin auf. Ihr Urlaubsgesuch vom 27. Februar 1914: "Euer Excellenz bitte ich hierdurch um freundliche Bewilligung meines kontraktlichen Urlaubs für Südamerica vom 20. April bis 1. September 1914. Mit vorzügliche Hochachtung, Hedy Iracema-Brügelmann", wird bewilligt. Sie reist ohne Mann und Sohn (14 Jahre alt), aber mit zwei Freundinnen und dem achtjährigen Sohn einer der beiden Freundinnen (Sophie Gross, 34 Jahre, deren Sohn Bernhard und Lina Hirsch, 40 Jahre). Wie aus einer Passagiersliste hervorgeht, fährt die Gesellschaft mit dem Dampfer Blücher der Hamburg-Amerika-Linie (Hapag) am 25. April von Hamburg aus los. Auf der Passagiersliste wird nur von männlichen Passagieren der Beruf vermeldet! Die Reise geht über Boulogne, Southampton und Lissabon bis Rio de Janeiro, wo sie erst Wochen später eintreffen. Das (wahrscheinlich) erste Konzert in Brasilien ist erst am 30. Mai in Sao Paulo. Es folgen sehr erfolgreiche Konzerte in Rio de Janeiro und Porto Alegre.
Rezension des Konzertes in Sao Paulo am 30. Mai 1914
Die Deutsche Zeitung in Sao Paulo schreibt über dieses Konzert:
"Die Voranzeigen hatten einen erstklassigen Stern vom deutschen Opernhimmel, eine mit einer hervorragenden Sopranstimme begabte erstklassige Sängerin angezeigt, und wahrlich, sie hatten nicht zu
viel gesagt. Die in Brasilien (Porto Alegre) geborene Sängerin hat den ihr vorausgegangenen Ruf nicht nur bestätigt, sie hat ihn übetroffen. Das Publikum schwelgte im Genuß der selten schönen
Stimme, der wunderbaren Wiedergabe aller Stücke und der schönen, imposanten Erscheinung, die nicht wenig zur Erhöhung des Effekts beiträgt. Welch ein Genuß muß es sein, Hedy Iracema als Walküre
in Richard Wagners gleichnamigem Musikdrama zu hören; sie scheint für diese Rolle geradezu prädestiniert, und wir können es begreifen, daß sie damit überall in Deutschland Sensation hervorgerufen
hat. Die schwer zu singende Arie der Elisabeth aus Tannhäuser „Dich, teure Halle” gab die Künstlerin tadellos wieder und bewies damit ihre hohe dramatische Begabung, die auch in der Arie „O ciel
de Parahyba” aus der Oper „Der Sklave” von Carlos Gomes vorteilhaft zur Geltung kam. Die Cavatine aus Gounods „Königin von Saba” brachte Hedy Iracema glänzend zu Gehör, so vollendet bis ins
kleinste Detail, wie es selten geboten werden dürfte.
Aber auch von der lyrischen Seite zeigte sich die Sängerin in glänzendem Lichte. Der Schmelz ihrer wunderbar gleichmäßig durchgebildeten, vorzüglich geschulten Stimme kam in hervorragender Weise
in den Liedern zur Geltung; auch das Heldenhafte gelang der Künstlerin vorzüglich, und Richard Strauß kann gewiß für sein Glanzlied „Auf, hebe die funkelnde Schale” keine glänzendere Verteterin
finden als Hedy Iracema, die Tochter des sonnigen Rio Grande do Sul. Auch im italienischen Repertoire zeigte sich die Künstlerin auf der Höhe. Die Schwierigkeiten der Arie „Ah forse è lui” (Ach
vielleicht ist er es) aus Verdis „Traviata” überwand sie spielend, die Koloraturen kamen glockenrein aus der Kehle, und wir müssen schon auf die früheren weltberühmten Gesangssterne wie Désirée
Artôt, Adelina Patti, Pauline Lucca und die Ungarin Etelka Gerster zurückgehen, wenn wir ebenbürtige Leistungen heranziehen wollen.
Was bei Hedy Iracema-Brügelmann so sehr angenehm berührt, ist ihre durch und durch künstlerische Wiedergabe, der Verzicht auf jede Kulissenreißerei und Effekthascherei, wie man es leider oftmals
bei großen Künstlern findet. Nur das rein künstlerisch Erhabene hat die hervorragende Sängerin im Auge, und jede Extravaganz, die die Galerie mit rauschenden Beifallsstürmen zu belohnen pflegt,
verschmäht sie und bringt dadurch ihre Leistung auf ein noch bedeutend höheres Niveau… Das Publikum erkannte den hohen Wert der Sängerin. Mit jedem neuen Liede wuchs der Beifall, der sich hin und
wieder zu enthusiastischen Kundgebungen erhob, die die Sängerin veranlaßten, mehrere „da capos” zu singen."
Musikleben in Rio de Janeiro
In einem Interview des Neuen Wiener Journal, no. 8255, Sonntag, 22. Oktober 1916, erzählt Hedy später sehr anschaulich über das Musikleben in Rio de Janeiro:
"Bei uns gibt es eigentlich nur ein Kunstzentrum, das ist Rio de Janeiro. Dort wird sehr viel gute Musik getrieben, das Publikum ist eminent musikalisch, es liebt Wagner und kennt Verdi und
Puccini fast auswendig. Jeder Zuhörer im Theater kennt von den Opern dieser Meister fast jede Note. Sie haben auch viel Sinn und Verständnis für moderne Musik und kennen ebenso Debussy wie
Richard Wagner. In Rio ist wohl kein ständiges Theater, nur gastierende Stagionen, und man kann sagen, daß das Beste des Besten aus der ganzen Welt sich dort zusammenfindet und daß dort
vielleicht das verwöhnteste Publikum ist, das es gibt. In ständiger Folge treten in Rio de Janeiro die größten Stars aller Länder auf, Rossi, Salvini, Caruso und alle die großen italienischen
Sänger und Sängerinnen haben dort gastiert und der Ruhm der Duse soll von dort seinen ersten Ausgang genommen haben. Das Publikum ist demzufolge überaus verwöhnt und sein südliches Temperament
gibt seinem Beifall oder Mißfallen jederzeit ungehemmt auf offener Szene Ausdruck. Wenn einem Sänger ein Ton mißlingt , wird sofort gezischt, und wenn derselbe Künstler nachher etwas sehr schön
singt, wird er am selben Abend wieder auf offener Szene enthusiastisch bejubelt. Die Leute sind dort in ihrem Urteil streng und unnachsichtig, sie überschütten ebenso mit Mißfallen wie mit
Beifall."
Ludwigsmedaille und Erfolge in Brasilien
Während ihrer Abwesenheit in Stuttgart wird Hedy im Mai 1914 vom Bayrischen König die Ludwigsmedaille für Wissenschaft und Kunst verliehen. Begeistert schreibt sie darüber und über ihre grossen
Erfolge in Brasilien am 25.7.1914 aus Rio de Janeiro den folgenden Brief an den Stuttgarter Intendanten Baron von Puttlitz:
"Euer Excellenz, wenn es auch kurz vor meiner Abreise ist, muß ich Euer Exc. meinen Dank aussprechen für die große Auszeichnung, die mir von Seiner Majestät, dem König Ludwig von Bayern verliehen
wurde. Ich erhielt die Depesche gerade zu Beginn eines Konzertes in Sao Paolo. Sofort bildete sich ein Komitee, welches von der Bühne herab dem Publikum von der großen Auszeichnung, die mir
zuteil wurde, Mitteilung machte. Exc. können sich keinen Begriff machen von der Ovation, die mir dann gemacht wurde - minutenlang dauerte der Applaus! Ich hatte sehr viel Glück mit meinen
Konzerten - auch pekuniären - mit Ausnahme des Konzertes in Rio, da kostete mich das Orchester allein über 3000 M. Ich hab auch nur das eine Konzert mit Orchester! In meiner Vaterstadt hatte ich
eine Rein-Einnahme von 17000 M.
Vorgestern sang ich für ein Theater Municipal die "Tosca" - mein Traum hat sich erfüllt!
Ich bitte Euer Exc. um Verzeihung, daß ich die Bescheidenheit beiseite lasse - ich hatte wirklich einen kolossalen Erfolg. Ich blieb deutsche Künstlerin, sang nicht für die Galerie, wiederholte selbst nicht die Arie im 1. Akt, trotzdem, das Publikum tobte. Das sehr difficile Publikum erkannte mich an, ebenso die zum Teil sehr strenge Kritik - alle erkannten an, daß ich nur die Rollen gab und darin aufging. Ich sang italienisch, hatte eine kleine Klavierprobe von einer Stunde, und erfuhr von meinem Engagement erst 2 Tage vorher! Honorar 2000 Mark.
Ich habe dem Hoftheater keine Schande gemacht! Auf das Heimkehren und auf meine sagenhaft schöne Arbeit freue ich mich sehr - trotzdem es mir unendlich schwer wird, meine herrliche Heimat zu
verlassen. Von meinem Fenster sehe ich die wunderbare Bucht mit ihren Bergen immer und immer in neuer Beleuchtung. Wir sind mitten im Winter und haben die Temperatur eines herrlichen Sonnentages
... Hoffentlich habe ich Euer Exc. nicht zu sehr gelangweilt mit meinem langen Brief!"
Aus der "kurz bevorstehenden Abreise" wird erstmal nichts, da drei Tage später, am 28. Juli 1914, der Erste Weltkrieg ausbricht. Aber zuvor hat sie noch ihrer Heimatstadt Porto Alegre
einen Besuch abgestattet, über den im Folgenden zu lesen ist.
Begrüssung in Porto Alegre
Mit dem Dampfer 'Itapura' reist Hedy im Juni 1914 von Rio de Janeiro nach Porto Alegre, eine Reise von mehreren Tagen, wo die Begrüssung durch ihre Landsleute sehr herzlich und festlich ist, wie
auch aus den folgenden Zeilen deutlich wird.
Deutsche Zeitung, Porto Alegre, 22.6.1914:
"(...) An äußeren Ehrungen hat es der Künstlerin ja schon vor ihrem Konzerte hier nicht gefehlt, und es berührt wohltuend, daß die höchsen Behörden des Staates wie zahlreiche Private es sich angelegen sein ließen, der als Berühmtheit wiedergekehrtn Tochter unserer Stadt in diesen Tagen vor ihrem Auftreten den Zoll ihrer Verehrung sichtbar zum Ausdruck zu bringen. Abholung der Künstlerin in den offiziellen Staatskarossen, Begrüßung durch amtliche Vertreter, Empfang mit Militärkapelle, Musikständchen vor ihrer Wohnung — in all diesen Bekundungen sprach sich die Hochschätzung der regierenden Kreise in sympathisch anmutender Weise aus. Daß die zahlreichen näheren Freunde und Bekannten der namhaften Porto Alegrenserin es an Beweisen der Ehrung nicht fehlen ließen, versteht sich ohne weiteres, wie auch am Konzertabend die völlig mit schönen Blumengewinden umstellte, förmlich in eine Ausstellung von Gebilden aus Floras Reich verwandelte Bühne dartat. (...)"
Konzerte in Porto Alegre
Am 20. Juni gibt Hedy ein Konzert im Theatro Sao Pedro, worüber die deutsche Zeitung u.a. dieses berichtet:
"(...). Das Konzert nahm alsdann seinen Anfang mit der großen Arie der Agathe aus Webers immerjungem „Freischütz” (2. Akt) und zeigte die Sängerin sogleich auf der Höhe ihres Könnens, in welchem
sich hervorragende gesangliche Begabung mit sorgfältigster Schulung und Durchbildung der Stimmittel zu einem herrlichen Ganzen eint. Man weiß wirklich nicht, was man bei dieser begnadeten
Priesterin der Kunst mehr bewundern soll: die krystallreine Intonation, den fülligen Wohlklang der prächtigen, kerngesunden Stimme, die völlige Ausgeglichenheit der Tongebung und Modulation
oder die wundervolle Atemtechnik, die untadelige Vokalisation und Artikulation, die minutiöse Sauberkeit und Klarheit jedes einzelnen Tones in allen Lagen und Zeitmaßen, oder endlich die
Innigkeit und durchgeistigte Erfassung des Stimmungsgehaltes beim Vortrag. (...)
Und gewaltig war auch der Beifall, der danach, zum Abschlusse des ersten Teils, den Raum durchbrauste und die Konzertgeberin immer wieder nötigte, an der Rampe zu erscheinen und den Dank der
Hörer entgegenzunehmen.(...)."
Am 25. Juni gibt es einen musikalischen Empfang zu Ehre Hedys im vollbesetzten Kinosaal Avenida (2000 Plätze!). Dort wurde sie mit einem Blumenstrauß, einem projizierten Foto (vom Schwager Jacintho Ferrari aufgenommen) und mit Musik vom 16-köpfigen Orchester der Sociedade Musical Porto Alegrense geehrt. Hedy bleibt nur eine Woche in Porto Alegre, die natürlich auch für Familienbesuch genutzt wird und reist zwischendurch auch noch nach Pelotas, südlich von Porto Alegre, wo vermutlich ihre Mutter wohnt. Auf Ansuchen einer Kommission vom Turner-Bund gibt Hedy im Apollo-Theater ein zusätzliches (ausverkauftes) Konzert zu 'volkstümlichen Preisen', um auch den Minderbemittelten Gelegenheit zu geben, ihre Kunst zu hören. Dieses Theater wurde erst im April 1914 gebaut und hat 2100 Sitzplätze.
Ausbruch des Ersten Weltkrieges
Am 11. Juli reist Hedy von Porto Alegre zurück nach Sao Paulo bzw. Rio. Am 28. Juli bricht der Erste Weltkrieg aus, der eine baldige Rückreise Hedys nach Europa vorerst unmöglich macht. Über den Kriegsbeginn in Rio erzählt Hedy in dem Interview mit dem Neuen Wiener Journal im Oktober 1916 rückblickend:
"(...) Ich habe in meiner Vaterstadt zuletzt vor zwei Jahren als Aida und Tosca gastiert und dort am Tage des Kriegsausbruches die Aida gesungen. Es war am 31. Juli, als
bereits die Nachricht von der Kriegserklärung in Rio durch Telegramm eintraf und der Eindruck, den dieselbe machte, war ein ganz ungeheurer. Bei dieser Gelegenheit möchte ich einfügen, daß Rio
bei Nacht wohl die hellste Stadt der Welt ist. In keiner Stadt habe ich so viel Licht gefunden, alles ist in Glanz und Helle getaucht. Von dem Tage der Kriegserklärung angefangen begann man
sofort mit Kohlen zu sparen und die Stadt wurde auf halbe Beleuchtung gesetzt. Während am Abend vorher noch alles in hellstem Lichterglanz strahlte, erschien nun alles in ein ernstes Halbdunkel
versetzt; das ganze Leben war wie umgewandelt, die Börse reagierte sofort auf die Nachricht, alles öffentliche Leben schien gleichsam zu stocken und stand wie unter einem lähmenden Eindruck.
(...)
Am 4. August war bereits das Kabel mit Deutschland durchschnitten, es kam keine Nachricht mehr hinüber außer denen, die die Engländer mitgeteilt haben wollten. (...)"
Verzögerte Rückreise nach Europa
Hedys Mann, Theo Brügelmann, schreibt ihr am 9.9.1914 aus Stuttgart:
"Eine Bekannte von Frau Hirsch, die über Holland nach N-York reist, will diesen Brief (...), mitnehmen und freundlicherweise von N-York aus Euch zusenden. (...)
Wir, (...), sind ebenso wie v. Puttlitz der Ansicht, daß es am richtigsten ist, du bleibst noch dort, bis die Seefahrt wieder sicherer sein wird. Das kann noch etwas dauern und Ihr müsst dann,
wie wir, Geduld haben; je nachdem kommt es aber auch bald, das wird sich danach richten, wie wir mit den Engländern fertig werden. (...)
Das Theater hat am 5. langsam angefangen, ist aber so leer, daß es wohl nicht lange mehr spielen kann, sodaß du also wie Puttlitz sagte, ja kaum was versäumst. Es heißt, der König habe befohlen, daß alle Gagen weiter bezahlt würden! An anderen Theatern nur 2/3 - 1/2 der Gage. (...)
Alle meinen, es sei doch das beste, wenn du noch ruhig drüben bleibst und abwartetest. Wenn Ihr es probiertet über Italien oder Holland herzukommen, es gelänge Euch als Frauen vielleicht, aber ein Risiko ist immerhin zur Zeit dabei; man weiß nicht, ob die Engl., wenn sie noch rabiater werden, nicht auch noch die Frauen von den Überseeschiffen gefangen nehmen oder irgendwo an Land zu gehen zwingen, von wo sie dann, Gott weiß wie, auf Umwegen unter großen Beschwerden und Unannehmlichkeiten ihren Weg nach der Heimat sich suchen können. Dir ist es doch gewiß möglich, dort oder in Sao Paolo noch zu konzertieren und so das nötige Geld zum Leben dort zu erwerben, und auch den Anderen auszuhelfen. (...)
Ja, das ist eine lange Trennung, aber Ihr seid doch drüben wie wir hier sicher. Andere müssen viel größere Opfer bringen. (...)"
Wann und wie Hedy die Rückreise nach Stuttgart schliesslich gelingt ist unbekannt. Jedoch tritt sie schon am 14. Oktober wieder im Stuttgarter Theater auf mit dem "Tannhäuser".
MET
Auch die New Yorker Oper ist für eine Gastperiode im Gespräch. Die Theateragentur Salter aus Berlin will Hedy für ein paar Monate ab Herbst 1914 an die Metropolitan Opera vermitteln. In einem
vertraulichen Schreiben von Salter vom 8.10.1914 an Putlitz in Stuttgart wird dies deutlich:
"Die Direktion der Metropolitan Opera Co. beauftragt mich soeben, sofort Vorschläge für das Engagement einer jugendlichen Sängerin telegraphisch zu unterbreiten, da die Möglichkeit vorliegt, dass eine solche für die kommende Saison engagiert werden muss. Ich erlaube mir daher, ganz ergebenst um Nachricht zu bitten, ob Sie gestatten würden, dass ich mit Frl. Brügelmann in Unterhandlung trete. Falls Euer Excellenz dies gestatten würden und ein Engagement zustande käme, müsste die Dame gegen den 20. ds. abreisen und könnte Anfang Mai wieder dort sein. (...)"
Putlitz antwortet per Telegramm:
"Gestatte zunächst mit Frau Brügelmann zu verhandeln. Behalte mir Entscheidung vor. gez. Baron Putlitz".
Es ist unbekannt, warum aus dem Intermezzo in New York nichts geworden ist. Hedy ist zu dem Zeitpunkt auch gerade erst zurück von ihrer zweiten Brasilien-Tournee und hat monatelang ihren Mann und 14-jährigen Sohn nicht gesehen.
Oper 'Mona Lisa'
Mona Lisa ist eine Oper in zwei Akten von Max von Schillings. Das Libretto - verfasst von der Österreicherin Beatrice Dovsky - verwebt die Entstehungsgeschichte des berühmten Gemäldes in eine Dreiecksgeschichte. Möglicherweise war Dovsky inspiriert vom spektakulären Diebstahl des Gemäldes aus dem Louvre im Jahr 1911. Schillings zieht sich 1913 in den heute sogenannten Mona-Lisa-Turm in Gürzenich (bei Köln) am Weiherhof am zurück. Dort stand damals ein Flügel, auf dem er innerhalb von nur sechs Wochen die Oper komponiert.
Die Uraufführung findet wegen des Ausbrechens des Ersten Weltkriegs erst am 26. September 1915 im Neuen Hoftheater in Stuttgart statt. Hedy Brügelmann singt dabei die
Hauptrolle der Mona Lisa. Die Oper wurde zu Schillings größtem Erfolg.
Im Buch "Opera - Komponisten - Werke - Interpreten" (Hrsg. Batta, A., Könemann Verlag, 1995) schreiben Jahrmärker/Wecker, daß die hochwertige Rollenbesetzung, aber auch die vom bewährten
Stuttgarter Team Schillings (Drigent), Gerhäuser (Regisseur) und Bernhard Pankok (Ausstattung) verantwortete künstlerische Leitung die Urauffühung zu einem eindeutigen Erfolg werden ließen, den
die sogleich einsetzende Polarisierung der Meinungen eher noch beförderte. Sah man hier Schillings' musikdramatische Begabung erstmals vollgültig bestätigt, so machte man ihm dort den Vorwurf
theatraler Effekthascherei. Anstoß erregte, zumal in nationalen und kirchlichen Kreisen, die als erotisch freizügig und deshalb als 'undeutsch' empfundene Handlung.
Die Uraufführung der Mona Lisa am Stuttgarter Hoftheater ist ein spektakuläres Ereignis, zu dem in großem Stil eingeladen wird. Auch die Generalprobe am Vortag ist zugänglich für geladene Gäste. Es ergehen Einladungen an 45 Theater in ganz Deutschland (aber auch z.B. nach Zürich und Prag), 53 Kapellmeister und 62 Musikkritiker sowie andere Persönlichkeiten des Musiklebens. Natürlich ist auch Schillings-Kollege und Freund Richard Strauss präsent. Daneben sind u.a. auch Operndirektor Dr. Pfitzner und Kapellmeister Otto Klemperer vom Strassburger Stadttheater zu Gast (siehe unten: Bestätigung der Einladung) sowie der Theateragent Salter aus Berlin. Er bittet um eine extra Karte für Otto Weil, ein Direktionsmitglied der Metropolitan Opera Co., der gerade in Deutschland weilt und den er gerne mitbringen möchte.
Das Hamburger Fremdenblatt schreibt (26.9.1915):
"Mitten im Kriege, wenige Tage nach dem tückischen Fliegerangriff, empfängt Stuttgart zahlreiche Gäste von nah und fern zum friedlichen Taufakt eines neuen Kunstwerkes. Schon der heutigen Hauptprobe zur morgigen Uraufführung von Schillings "Mona Lisa" wohnten eine Reihe hervorragender Komponisten, Kapellmeister, Bühnenleiter und Musikschriftsteller bei. Einige hundert Personen, darunter auch viele Damen, hatten im Parkett Platz genommen. Im ersten Rang thronte ganz allein Richard Strauß hinter einem Notenpult mit der Partitur. Die Probe, die bereits das Gepräge einer geschlossenen Aufführung trug, währte nahezu drei Stunden. (...)"
Oskar Schröter schreibt im Tagblatt über die Uraufführung (27.9.1915):
"Die großen musikalischen Werte, der Glanz und die Farbigkeit des musikdramatischen Ausdrucks, und die äußere Vortäuschung nicht vorhandener innerer dramatischer Größe und Tiefe sind in der
Uraufführung am Stuttgarter Hoftheater in aller nur denkbaren Wirksamkeit zur Geltung gebracht worden. Dazu hat der Tondichter selbst als musikalischer Leiter mit anfeuernder Direktionskunst, und
der Leiter der Bühnenvorgänge, Emil Gerhäuser, mit sicherem Blick für das Bühnenwirksame in feinster Abstimmung der Darstellungsmittel, von Szenenbild, Stimmungslicht und Farbe und Bewegung in
der Einzeldarstellung und im Zusammenspiel mit der Stimmungsfarbe und der Linienführung der Musik verholfen. (...)
In den beiden Hauptgestalten, der Mona Lisa und dem Francesco hat die Textverfasserin zwei Virtuosenrollen geschaffen, die geradezu auf spezialistische Gastspielausbeutung hinweisen. Und wenn
unternehmende Bühnenkünstler die wirksamsten Muster für eine solche vielleicht sehr einträgliche Betätigung haben wollen, dann müssen sie Hedy Iracema Brügelmann als Mona Lisa und John Forsell
als Francesco sehen und hören. Die Mona Lisa erscheint dieser ersten Darstellerin geradezu auf die ganze Gestalt, auf das Gesicht und in die Stimme geschrieben zu sein. Das Bild Lionardos lebte
wenigstens äußerlich in erstaunlicher Übereinstimmung mit dem Original auf. Und auch der Ausdruck des Gesanges verschmilzt mit dem des Bildes zu eigenartig rätselvoller Einheit. (...)
Das große, glänzende Publikum, das sich zu dem Ereignis versammelt hatte, nahm das Werk mit brausendem Beifall auf. (Beifallssturm nach jedem Akt).
Das Stuttgarter Hoftheater hat wieder ein Ereignis gehabt, das die Augen der ganzen Bühnen- und musikalischen Welt auf sich lenkte."
Württembergische Zeitung (27.9.1915):
"(...) Der Besuch von vielen namhaften Musikern, welche zu dieser Aufführung herbeigeeilt sind, ist nicht nur ein Zeichen von der Wichtigkeit, welche man bei einer neuen Oper unseres Generalmusikdirektors beilegt, sondern er ist darüber hinaus ein Beweis für ein durch nichts zu erlahmendes Interesse an den Vorgängen auf dem Gebiet der Kunst. Auch ein Zeichen hohen Kulturstandes! (...) Im Anschluß an die Uraufführung fand im Speisesaal des Hotel Marquardt ein gemeinsames Abendessen statt. Zu Beginn des Mahles erhob sich Generalintendant Baron zu Putlitz, um in schlichten Worten der künstlerischen Bedeutung des Tages zu gedenken. (...)"
Auftreten vor Soldaten im Ersten Weltkrieg
Im Juni 1916 gastiert das Stuttgarter Ensemble mit u.a. Hedy im besetzten Nordfankreich: in Lille und Arlon. In Lille wird mehrfach vor deutschen Soldaten die "Meistersinger von Nünberg" von
Wagner aufgeführt. In Bapaume ist es ein Liederabend mit Arien und Liedern von Wagner, Schubert und Brahms.
Die österreichische Zeitung Neue Freie Presse schreibt (19.6.1916):
"Die Meistersinger in Lille
Aus Nordfrankreich wird geschrieben: Das deutscheste Werk im erkämpften Lande - ein Erlebnis, das zu den kostbarsten und tiefsten Kriegseindrücken gehören wird! (...) Für dieses seltene Festspiel (die erste der Aufführungen war am 4. Juni) hat man aber der Stuttgarter Hofoper zu danken. Sie hatte mit großer Selbstlosigkeit die besten ihrer Künstler, Chor und Dirigenten entsandt. Den Sachs gab Theodor Scheidl, den Stolzing Rudolf Ritter, Frau Iracema-Bruegelmann das Evchen. (...) Das Orchester war feldgrau. (...) Unendlicher Jubel durchbrauste nach Sachsens Ansprache das Haus, lebhafter und inniger war kaum je ein Dank für Kunst."
Im Neuen Wiener Journal, no. 8255 (22. 10.1916) erzählt Hedy selber in einem großen Interview u.a. über ihre Eindrücke von diesen Konzerten im militärischen Rahmen:
"Ich habe im Januar (muss wohl Juni heissen! RB) diesen Jahres in Lille fünfmal gesungen, und zwar mit dem Ensemble der Stuttgarter Hofoper, das dort gastierte. Ich sang das Evchen in
“Meistersinger”. Das Haus war ausverkauft und bis an die Decke mit Feldgrauen gefüllt, die direkt aus den Schützengräben gekommen waren und der Vorstellung mit begeisterter Stimmung und innerstem
Anteil folgten. Diese Abende sind mir durch all die seltsame Kontrastwirkung, durch die gehobene fast ergreifende Stimmung, die vielleicht noch mehr vom Zuschauerraum auf die Bühne als umgekehrt
wirkte, durch den eigentümlichen, gehobenen Kontakt, der zwischen uns Künstlern und diesen Zuhörern herrschte, die noch vor kurzem dem Tode ins Auge gesehen, um nun bei der Kunst, wie in einem
Tempel de höheren Lebens, Einkehr zu halten, einfach unvergeßlich! (...)
Ich habe später auch noch in Bapaume gesungen. Dort haben die Deutschen aus einer Art großem Magazinbau ein Theaterchen errichtet, in dem kleine Vorstellungen, Einakter und ähnliches gespielt und
zeitweilig auch Konzerte abgehalten wurden. In einem dieser Konzerte habe ich gesungen und auch dort die Freude und das Glück genossen, zu sehen, daß die Schrecknisse und furchtbaren Eindrücke
des Krieges den Sinn für die edleren Wirkungen der Kunst nicht abgestumpft, sondern vielleicht sogar noch vertieft haben. (...)"
Offensichtlich hat Hedy auch schon im März 1916 im belgischen Arlon gesungen wie das Telegramm oben an Hauptmann von Ebart bezeugt.
Hier kommen demnächst noch Informationen über:
- die Strauss-Festwoche 1912 anlässlich der Einweihung des neuen
Stuttgarter Theaters
- die Situation während des ersten Weltkrieges
- Auszeichnungen
- den Wechsel nach Wien
Abschiedsgeschenk
Bei Hedys Abschied aus Stuttgart im Sommer 1917 bekommt sie von Bernhard Pankok eine Figurine (Kostümbildentwurf) geschenkt mit dem Kostüm der Gräfin aus 'Figaros Hochzeit', eine Rolle die sie
oft in Stuttgart gesungen hat. Bernhard Pankok (1872-1943) war ein deutscher Maler, Architekt, Musiker und
Designer, der ab 1902 in Stuttgart lebte und auch als Ausstatter am Stuttgarter Hoftheater tätig war, z.B. bei der Uraufführung der Oper 'Mona Lisa' von Schillings im Jahr 1915.
Zurückblick auf die Stuttgarter Periode
In seinem Nachruf anlässlich Hedys Tod im Jahre 1941 schaut der
Musikkritiker Oswald Kühn in einem Artikel des Schwäbischen Merkurs auf die Stuttgarter Periode von Hedy Brügelmann zurück und gibt damit einen farbigen Überblick über Hedys erfolgreiche Jahre an
der Stuttgarter Oper:
"(...) Mit dem Namen Hedy Iracema-Brügelmann verbindet sich das Andenken an jenes Jahrzehnt, das eine Blütezeit der Stuttgarter Oper bezeichnet. Und in diesem Ensemble — wir nennen nur die Namen Wildbrunn, Onegin, Oestwig — war die Verstorbene ein leuchtender Stern.
Max Schillings hatte mit sicherem Blick für die besondere Begabung sie 1909 vom Konzertsaal weg für die Kgl. Hofoper verpflichtet, das Wagnis brachte volles Gelingen: die Sängerin war bald ein Liebling des kunstverständigen Stuttgarter Theaterpublikums, nicht nur als Künstlerin, sondern auch in gesellschaftlicher Beziehung. Schon ihre Persönlichkeit verbürgte eine Sängerin von ausgesprochener Kultur. Eine schöne, warm timbrierte Stimme stand ihr zur Verfügung, so das es ihr bald gelang, auch als stets interessante Darstellerin auf der Bühne festen Fuß zu fassen, den Operngestalten Leben zu verleihen. Senta, Evchen, Elsa, Sieglinde, Isolde — dann eine Tosca, die ihre eignen Züge trug. Für Mozarts Gräfin im Figaro oder Donna Anna — an die wir uns noch lebhaft erinnern — kam der gepflegte Gesangsstil zur ausschlaggebenden Bedeutung: andererseits wußte sie aber auch einer Chysotemis in Straußens "Elektra" Geltung zu verschaffen. Ein Höhepunkt dieser künstlerisch glanzvollen Laufbahn war die Mona Lisa in der Schillingschen Oper, die Darstellung der Titelpartie wird uns unvergeßlich sein, sie ist so noch nicht wieder übertroffen worden. Und als sie in der anderen Stuttgarter Uraufführung, die die Augen der musikalischen Welt auf sich lenkte, in der "Ariadne auf Naxos" die Ariadne neben der Jeritza sang, war ihr Name auch außerhalb ihres engeren Wirkungskreises bekannt. (...) Der König von Württemberg hatte der Künstlerin in Schloß Bebenhausen die goldene Medaille für Kunst und Wissenschaft persönlich überreicht. Als Kuriosum sei noch mitgeteilt, daß die Sängerin in einer Tannhäuser-Aufführung wegen Erkrankung der Frau Cordes die Partien der Elisabeth und der Venus sang. (...)"